Um eines gleich vorweg zu nehmen: Ich will meine wertvolle Lebenszeit nicht damit verschwenden, miesepetrig oder negativ zu sein. Man weiß nie, wie lange es einem noch gut geht auf dieser Welt.
Dennoch staut sich manchmal ganz schön etwas auf, das irgendwann raus muss. Und heute ist es soweit: Ich will Dampf ablassen.
Wir leben in hoch technisierten Zeiten. Wurde der Computer vor einigen Jahrzehnten noch als vorübergehende Freizeitbeschäftigung der Nerds angesehen, so ist er heute in fast allen Arbeits- und Lebenslagen unverzichtbar geworden für den modernen Menschen. Davon kann man halten, was man will. Aber es bleibt ein Fakt. Kommunikation, Wirtschaft, Navigation, Produktion – überall sind die kleinen Helferlein aktiv. Ich persönlich würde mich als extrem technikaffin bezeichnen und begreifen. Mit Computern bin ich aufgewachsen.
Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, wie ich damals meinen Vater bei seinen Programmierarbeiten beobachtet habe: Ich war vielleicht acht oder neun Jahre alt und sofort fasziniert davon, wie er einer Maschine Befehle gab und diese sie einfach ausführte. Er bastelte an einem Programm, das ihm nach der Ziehung der Lottozahlen zuverlässig sagen konnte, ob er gewonnen hatte.
Nur kurze Zeit später übernahm ich das Ruder und überholte ihn alsbald. Ich liebte den Geruch der Elektronik beim ZX Spectrum, jenem kleinen Rechner mit seinen 48 KB RAM. Man konnte hören, wenn er abstürzte. Später programmierte ich in Assembler auf dem Atari ST. Dieser verfügte bereits über ein ganzes Megabyte Hauptspeicher. Noch heute verdiene ich mein Brot mit der Programmierung von Computern.
Doch es gibt Tendenzen, die mich beunruhigen. Und dabei spreche ich nicht mal unbedingt nur von übereifrigen Datensammlern oder der Angst vor einer ständigen Überwachung. Mich nerven einfach zunehmend einige ganz andere Dinge. Versucht, meine Gedankengänge unter folgendem Vorzeichen nachzuvollziehen: Die Technik soll dem Menschen dienen – nicht umgekehrt! Ich als Mensch möchte Vorteile haben. Ich möchte schneller werden. Oder besser. Oder beides. Ich möchte mehr Luxus erfahren – keine Rückschritte. Wenn wir damit anfangen, genervt zu sein, weil wir es ständig dem Computer recht machen müssen, dann passt etwas Grundsätzliches im Design der Abläufe oder der Software nicht.
Nehmen wir das Beispiel der unsäglichen Captures. Jeder kam sicherlich schon einmal in Berührung mit diesen nervtötenden, sinnlosen Minispielchen, zu denen wir genötigt werden, wenn wir uns irgendwo registrieren oder anmelden wollen. „Klicken Sie alle Kästchen an, in denen Zebrastreifen zu sehen sind“, lautet da beispielsweise die Aufforderung. Häh? Warum sollte ich? Wenn ich zocken will, schmeiße ich die Playstation an. Was geht mich fremdes Leid an? Wieso habt ihr keine intelligentere Analyse zur Hand, wenn es um die Detektion von Bots geht? Bei der Registrierung für einen Dienst ist das eine Sache – schlimm genug. Aber bei der Anmeldung? Mit einem bestehenden Nutzerkonto und korrektem Passwort? Warum soll ich da irgendwelche doofen Spiele spielen, die meine Lebenszeit verkürzen?
Ihr dürft gerne mein Benutzerkonto vorübergehend sperren, wenn ihr in euren Datenbanken erkennt, dass ich 100 Aktionen pro Sekunde durchführe, wozu ein echter Mensch ja nicht in der Lage wäre.
Ein zweites Beispiel: Die biometrische Entsperrung meines Handys. Ja, ich weiß. Meinen Fingerabdruck sollte ich nicht ohne Not nach Amerika schicken. Man hört ja einiges, was da an Missbrauch möglich ist. Ein Passwort kann ich ändern, aber nicht meinen Fingerabdruck. Aber sei’s drum. Ich habe mich dazu entschieden, weil es für mich echt praktisch ist. Ich will es ja schließlich bequem haben. Fingerabdruck auf die Rückseite des Handys gedrückt und schon ist es entsperrt. Das ist Komfort für mich. Soweit alles gut. Aber warum um alles in der Welt zwingt mich mein doofes Handy alle 24 Stunden dazu, stattdessen mein Kennwort einzugeben? Und warum passiert das immer dann, wenn ich „nur mal eben schnell“ irgendwem ein Bild zeigen will? Und warum vertippe ich mich auf der elendigen Tastatur dann noch? „Geben Sie zu Ihrer Sicherheit Ihr Passwort ein!“, heißt es. Wieso zu meiner Sicherheit? Ich habe die biometrische Entsperrung mittels Fingerabdruck gewählt. Ich will mein Passwort nicht eingeben. Und es erhöht auch nicht „meine Sicherheit“.
Und schließlich die Krönung der Nerverei: Die Selbstzahlerkasse. Als sie in unserem Rewe eingeführt wurde, habe ich gefeiert. Noch dazu mit einem handlichen Handscanner, den man sich am Eingang holen konnte. Besser geht’s nicht. Die gelbe Klappkiste aufgestellt und in den Wagen gepackt, die Produkte gescannt und gleich reingestellt. An der Kasse den QR-Code des Handscanners eingelesen, Karte rangehalten, fertig. Eine sehr geniale Möglichkeit, die lästigen Abläufe im Supermarkt deutlich zu optimieren – ich liebe es zu optimieren.
Nun kam das Kaufland in unserem Ort auch auf die Idee, Selbstzahlerkassen einzuführen. Prinzipiell auf jeden Fall begrüßenswert. Warum aber hat man die Umsetzung nicht an die Abläufe im Rewe ausgerichtet? Das wäre zu einfach gewesen, schätze ich. Im Kaufland gibt es eine Ablagefläche, die als Waage konzipiert ist. Wie funktioniert das ganze? Ich muss meine Ware aus dem Einkaufswagen rausnehmen, über den Scanner ziehen und anschließend auf die Ablage legen. Erst dann geht es weiter. Ich kann auch meine geliebte gelbe Kiste nicht einfach auf die Waage stellen – damit kommt das System leider gar nicht klar. Sie ist zu schwer, um als „selbst mitgebrachte Einkaufstasche“ durchzugehen. Klasse. Also jedes Produkt aus dem Wagen auf die Waage stellen. Nach der Bezahlung jedes Produkt von der Waage wieder in den Wagen bzw. in die Kiste legen. Wo ist da der Vorteil? Wo ist da die Verbesserung, die Optimierung? Richtig, sie existiert nicht.
Den Vogel abgeschossen habe ich heute, als ich mit meinem Junior Hundefutter gekauft habe. Drei Pappschachteln mit jeweils sechs Dosen. Man kann aber nach dem Scannen keine Anzahl eingeben! Also musste ich 18 Dosen aus dem Wagen einzeln über den lustigen Scanner ziehen und auf der Waage ablegen (ohne Pappe natürlich). Anschließend konnte ich bezahlen und die 18 Dosen wieder zurück in den Wagen packen. Wow. Und dann wundern sich die Leute, wenn über die Technik gemeckert wird.
In diesem Zusammenhang gibt es für die Benutzerführung gleich noch eins auf den Deckel: Wenn man mit der Bedienung ein Problem hat, kann man auf dem Touchscreen „Hilfe“ anklicken. Was passiert dann? Eine bebilderte Anleitung für knifflige Fragen des Scanvorgangs? Nein! Der Bildschirm meldet fröhlich „Personal ist informiert“ und bleibt in dieser Ansicht gesperrt. Ein „Oh, doch nicht, bitte rückgängig“ gibt es natürlich nicht. Man muss auf das Personal warten oder wechselt zur nächsten Selbstzahlerkasse.
Wie eingangs erwähnt bin ich (oder halte mich?) für sehr technikaffin. Aber solche Dinge rauben mir den letzten Nerv. Nicht nur Grönemeyer fragt sich da zu Recht: „Was soll das?“.
Jetzt komme ich gerade richtig in Fahrt. Drei Beispiele reichen mir nicht, ich warte noch mit einem vierten auf: Die Zwangsabmeldung. Ich bin selbstständig. Einmal im Monat muss ich meine Umsätze und Kontobuchungen pflegen und abrechnen. Dafür nutze ich ein System namens Datev. Ich habe zwei Konten und dieses Datevsystem, wo ich meine Rechnungen hochladen kann. Für jede Buchung auf jedem Konto muss ich die Rechnung in Form einer PDF-Datei ins Datevsystem hochladen. Das ist OK. Allemal besser, als das ganze in Papierform abzuwickeln.
Aber wie das so im Multitasking-Alltag ist: Da kommt ein Telefonat dazwischen oder die panische Rückfrage eines Kunden, wie das Leben denn nun weitergehen soll. Oder auch solche Nebensächlichkeiten wie die Mittagspause mit geplanter Nahrungsaufnahme.
Nach der Unterbrechung kehrt man zum PC zurück und stellt hoch erfreut fest, dass man aus allen Webseiten-Anmeldungen rausgefolgen ist. Mit welcher Begründung? Richtig: „Zu Ihrer Sicherheit“. Mit Sicherheit steigt mein Blutdruck und nichts anderes. Warum kann man solche Sinnlosigkeiten nicht wenigstens irgendwo einstellen bzw. abstellen? Das ist MEIN PC in MEINEM Arbeitszimmer. Wenn da jemand ran will, um sich nicht vorhandene Millionen zu überweisen, muss er meinen Fingerabdruck fürs Handy haben, das Passwort für die Bank, um eine TAN zu erzeugen bzw. die Transaktion freizugeben. Und er muss die Haustür aufbrechen und an einem genervten Karateka und einem unberechenbaren, kleinen Hund vorbei ins Arbeitszimmer kommen.
Auch Datev hatte mich abgemeldet. Es könnte ja sein, dass heimlich jemand Rechnungen hochlädt, um mich zu ärgern. Und dass mein Steuerbüro das auch einfach so durchwinkt. Wo ich doch normalerweise für jedes Hanuta, das ich versehentlich mit der Geschäftskarte bezahlt habe, auf den Deckel kriege. Sehr wahrscheinlich ist das so, oder?
Also opfere ich wiederum zwei Minuten, um mich bei allen Seiten erneut anzumelden – natürlich per Zweifaktorauthentifizierung – zu meiner Sicherheit!
Die mittlerweile fünf Beispiele mache ich mit der Freischalt-PIN per Post vollständig. Für das Onlinebanking muss ich eine App auf dem Handy verwenden. Diese App muss freigeschaltet werden. Zu diesem Zweck bekomme ich so richtig solide einen Brief per Post mit einem Freischaltcode. OK, kann ich vielleicht noch verstehen. Sehe ich vielleicht noch ein.
Nun hatte ich bei der Installation der App einen Fehler gemacht. Deshalb funktioniert die Freigabe von Transaktionen nicht ausschließlich biometrisch, sondern ich muss zusätzlich noch ein Passwort eingeben. Bei meiner Frau funktioniert es ausschließlich mit dem Fingerabdruck. Das wollte ich natürlich auch haben. Ihr wisst schon: mehr Komfort und Optimierung! Aber dafür benötige ich erneut einen Code, den ich per Post bekommen würde. Gesagt, getan: Ich rief bei der Bank an. Keine zwei Tage später war der Code da. Ich war aber gerade thematisch ganz woanders und speicherte den Task „Banking-App erneut installieren“ irgendwo in meiner Todo-Liste im Gehirn. Irgendwo in der Mitte rechts unten.
Als ich dann mal Ruhe hatte, wollte ich das endlich mal durchziehen. Ich nahm also den Brief zur Hand und entdeckte auf der zweiten Seite, nachdem ich den Code aus seiner aufwändigen Falz befreit hatte, einen kleinen Hinweis: „Der Code ist 14 Tage lang gültig“. OK, wann hatte ich den Brief bekomme? Vor drei Wochen. Klasse. Läuft. Da verlässt mich die Lust. Warum läuft dieser Code ab? Und warum so schnell? Was könnte denn so schlimmes passieren nach 14 Tagen?
Habe ich etwas von fünf Beispielen geschrieben? Ich meinte natürlich sechs. Habt ihr euch schon mal auf irgendeiner Website registrieren wollen? Oder in einem Onlineshop ausgecheckt? Na klar, das hatten wir ja eingangs schon einmal. Diese doofen Captures – halt, das hatten wir auch schon. Jetzt geht es um die Angabe der Email-Adresse. Klar gebe ich die an. Dann bekomme ich eine Bestätigung und habe etwas in der Hand, falls es Schwierigkeiten gibt. Praktisch. Gerne. Aber halt! Was ist nun wieder los? „Bitte wiederholen Sie Ihre Email-Adresse“ – ihr ahnt es schon: „Zu Ihrer Sicherheit“.
Oh, Danke! Es ist so beruhigend zu wissen, dass ihr euch um meine Sicherheit sorgt! Ich fühle mich so unsicher, wenn ich meine Emailadresse nur einmal eingeben darf.
Was mache ich also? Ich bin ja schlau! Ich gehe in das erste Email-Adressen-Feld, markiere alles mit STRG+A und kopiere es in die Zwischenablage mit STRG+C. Dann drücke ich die Tab-Taste und komme mit etwas Glück (auch nicht selbstverständlich) in das Feld der zu wiederholenden Email-Adresse. Dort drücke ich STRG+V. Was passiert? Nichts. Die Frontend-Helden haben diese Funktion gesperrt. Ich soll ja schließlich – dumm wie ich bin – meine Email-Adresse noch einmal eintippen – zu meiner Sicherheit!
Und dann wundern sich die Mediziner, dass immer mehr Blutdruck-Medikamente verschrieben werden müssen?
Um eines klar zu stellen: Ich bin sicherlich auch nicht perfekt. Auch meine Software gibt manchen Menschen sicherlich Anlass zur Beschwerde. Das höre ich mir gerne an und schaue, wie ich die Probleme beseitigen kann. Aber jeder Designer und jeder Entwickler sollte sich Zeit nehmen darüber nachzudenken, was er oder sie da zusammenbaut. Und bitte immer unter der Prämisse „Wie kann ich dem Menschen helfen“. Ich will im Alltag von der Technik profitieren und nicht zu ihrem Sklaven degradiert werden.